Angedacht von Pastor Dr. Joachim Diestelkamp

Nachricht 22. Mai 2021

Nächstenliebe ?

 

Von Pastor Dr. Joachim Diestelkamp, Loccum und Wiedensahl

Ihr ist übel. Sie kann immer noch nicht verarbeiten, was da eben passiert ist. Eigentlich wollte die junge Frau die Post aus dem Briefkasten holen, da sieht sie aus den Augenwinkeln, wie ihre Nachbarin gegenüber aus der Haustür kommt und kurz darauf stürzt. Richtig heftig fällt die alte Frau auf ihr Gesicht. Die junge Frau will loslaufen, will der Nachbarin aufhelfen, da spürt sie plötzlich eine Hemmung, die sie stocken lässt: Geht das jetzt in Pandemie-Zeiten, darf sie die Nachbarin denn anfassen? Für ein paar Sekunden ist sie wie eingefroren, dann rennt sie los, um zu helfen. Doch kaum hat sie die Gartentür erreicht, rappelt sich die alte Frau hoch, erhebt schützend die Hand und ruft: „Kommen Sie mir nicht zu nahe! Es geht mir gut. Die junge Frau stoppt, sie fühlt sich abgewiesen, überflüssig, ratlos. „Soll ich nicht doch vielleicht einen Krankenwagen rufen?“ „Nein danke“, sagt die Nachbarin, „alles gut.“

Zurück in ihrer Wohnung spürt die junge Frau Übelkeit in sich aufsteigen. Es ist schrecklich, wie Corona uns verändert, denkt sie. Sogar spontane Hilfe in der Not wird fragwürdig.

Die Geschichte dieser beiden Frauen hat mich tief betroffen gemacht. Ich sehne mich nach einem wirklichen Pfingstfest. Nicht nach einem verlängertem Feiertagswochenende, sondern nach einem Pfingstwunder sehne ich mich, so wie damals: Dass wir wieder zusammenkommen dürfen ohne Abstand und Masken auf engem Raum, dass wer mag, Gott loben und lauthals singen darf. Dass wir uns – wenn das Gebot der Nächstenliebe dies erfordert, auch trotz Corona - in die Arme fallen vor Freude. Oder wenn wir einem Menschen helfen, oder jemanden trösten wollen – vielleicht einen ganz fremden im Krankenhaus oder auf der Straße. Ich sehne mich danach, vom Heiligen Geist erfüllt zu werden damit wir wieder einmütiger und selbstverständlicher miteinander umgehen und uns verstehen. Corona hat Gräben gerissen, gegensätzliche Positionen knallen aufeinander, dazu die Sorglosigkeit hier und tiefe Furcht dort. Ach, dass wir doch wieder mehr eine Sprache sprechen könnten über Gräben und Ängste hinweg. Es wird Zeit, dass Pfingsten wird.

Joachim Diestelkamp, Pastor in Loccum und Wiedensahl

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