Meine Zeit steht
Von Pastor Jens Mahlmann, Nendorf und Raddestorf
Wenn es vielen Leuten so geht wie mir, dürfte das Empfinden derzeit verbreitet sein: meine Zeit steht. Wobei die Formulierung das Problem hinter dem Empfinden unzutreffend beschreibt. Denn meine Zeit steht ja nicht. Im Gegenteil: sie läuft weiter. Nur kann sich vieles nicht entfalten, wodurch sie sich sonst als sinnvoll angewandte Zeit anfühlt, als erfüllte. Das ist das Problem. Ein Unbehagen keimt auf, mit den eingeschränkten Lebensmöglichkeiten gehe Lebenszeit verloren, ja, werde geradezu gestohlen. Ohne Aussicht, sie jemals erstattet zu bekommen. Dereinst wird Freund Hein klingeln. Dann mag ich einwenden: „Ich konnte wegen Corona anderthalb Jahre nicht ins Kino gehen. Ich habe Anspruch auf drei Monate Nachschlag.“ Daraufhin wird er herzlich lachen und mir sein Stundenglas vorhalten: „Amigo, Deine Zeit ist abgelaufen.“
Derzeit kursieren Zahlen, wie viel Prozent Lebenseinkommen unseren Schülern durch den Stillstand im Bildungsbetrieb verloren gehe. Ob das ein angemessener Weg ist, versagte Lebensentfaltung zu benennen? Malen Sie sich aus, am Sarg eines dreiundvierzigjährigen Unfallopfers würde gesagt: „Besonders tragisch ist natürlich, dass er 49 % seines Lebenseinkommens nicht mehr erarbeitete.“ Ich wenigstens zöge es vor, in einem solchen Augenblick ganz andere Verluste zu betrauern. Womit wir an eine einfache Frage geraten: Woran messen wir, ob wir Lebenszeit als erfüllt erfahren?
Antworten darauf fallen weder einfach noch einhellig aus. Eine steht am morgigen Sonntag im Mittelpunkt: Es misst sich daran, ob wir in unserer Zeit Jesus nachfolgen. Auch dann, wenn wir über Zeit gerne anders verfügten, als es uns zugemutet wird. Petrus schlägt vor, die tödliche Reise nach Jerusalem abzusagen und so Zeit zu gewinnen. Doch Jesus rückt dessen Maßstäbe zurecht: „Du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist.“ Folglich übt sich der Betende im Tagespsalm in Nachfolge ein, indem er sein Zeiterleben Gott anheimstellt: „Meine Zeit steht“ - nicht still, sondern - „ in deinen Händen“.
Ihr
Jens Mahlmann, P.
