Angedacht von Superintendentin Dr. Goldhahn-Müller

Nachricht 31. August 2019

Besuch bei Ännchen von Tharau

Von Superintendentin Dr. Ingrid Goldhahn-Müller

Mitten  auf dem Marktplatz steht sie, die junge Frau - lächelnd, mit einer Blume in der Hand, und sie freut sich über Besuch. Antworten wird sie allerdings nicht, wenn Sie mit ihr ins Gespräch kommen wollen, denn sie ist aus Stein.  Und man muss auch ziemlich lange reisen, um sie persönlich kennen zu lernen, denn ihr Wohnort ist die bunte Hafenstadt Klaipeda in Litauen, das ehemalige Memel. Ich habe sie besucht, das Ännchen von Tharau - vor 14 Tagen erst- und bin ihrer besonderen Geschichte  auf die Spur gekommen. Das Liebeslied mit den 17 kurzen Versen, das  Ännchen weit über Ostpreußen und ihre Zeit hinaus bekannt gemacht hat, kennen Sie alle. Der Dichter Simon Dach hat es für Anna Neander, die Tochter des Tharauer Pfarrers Martin Neander geschrieben  --- aber es ist doch sehr die Frage, ob auch eigene Leidenschaft darin mitschwingt, wenn er glühend bekennt:

'Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut, du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut'.

Es ist nämlich das Hochzeitslied für Ännchen, als sie 1636 mit 21 Jahren mit Pastor Johannes Portatius, ihrem ersten Mann, vorm Traualtar steht. Wahrscheinlich also eine Auftragsarbeit, die der Bräutigam an seinen Freund, den Dichter Dach, vergab. Das harte, entbehrungsreiche Leben mitten im 30jährigen Krieg klingt  im Hochzeitslied unüberhörbar  an:

'Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein soll unsrer Liebe Verknotigung sein.

So wird die Liebe in uns mächtig und groß durch Kreuz, durch Leiden und trauriges Los'.

Und ein trauriges Los wird es. 10 Jahre nur dauert der gemeinsame Dienst in der Gemeinde Trempen (heute Russland). Bereits 1646 verstirbt Pastor Portatius.  In ihrer wirtschaftlichen Not heiratet Ännchen rasch wieder - und zwar so, wie es der damals üblichen Pfarrwitwenversorgung entsprach, nämlich den Nachfolger im Amt Pfarrer Christoph Grube. Der stirbt nach 6 Ehejahren, und Anna steht noch ein drittes Mal vorm Traualtar - mit dem nächsten Amtsnachfolger Pastor Johann Melchior Beilstein.  Sie ist um die 50,  als sie zum 3. Mal Witwe wird. Inzwischen ist ihr ältester Sohn bereits Pastor geworden - Friedrich Portatius. Zu ihm zieht sie jetzt nach Insterburg und dient dort der Gemeinde mit Treu und Fleiß, bis sie 74jährig verstirbt und in Insterburg begraben wird.  - Was für ein hartes Leben - voller Entbehrung und voller Abschiede, voller Tränen und Erwartungen, die sich nicht erfüllt haben. Was für ein Leben aber auch mit Frömmigkeit und Festigkeit, den unser Glaube uns schenkt.

Und einmal -Ännchen ist da bereits 230 Jahre tot- da ist sie sogar zur politischen Aktivistin und Widerstandskämpferin geworden. Als nämlich Hitler 1939 auf dem Memelner Rathausplatz seine mitreißende Rede vom  totalen Krieg hielt. Da stand sie nämlich schon stumm mit der Blume in der Hand an ihrem jetzigen Platz -- und nach der Rede sagten zwei Nazigrößen empört zu Hitler, das Ännchen habe dem Führer ja den Rücken zugekehrt.  Am nächsten Tag schon war sie verschwunden, die kleine Skulptur - auf Nimmerwiedersehn. So müssen wir heute mit einem Nachguss Vorlieb nehmen.  Ihre Ausstrahlung aber hat Ännchen nicht eingebüßt - ein Strahlen, das für Glaube, Liebe und Hoffnung steht.

Ihre

Dr. Ingrid Goldhahn-Müller, Supn.

Kontakt